Genderwahn

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Gerade wieder irgendwo ein polemischer Kommentar, dass niemand diese alberne Genderdiskussion braucht.
Dass es diese Person tierisch nervt, sich mit diesem Schwachsinn auseinandersetzen zu müssen.
Und ich versteh das gut. Es nervt mich nämlich auch tierisch. Seit Jahrzenhnten.

Ich bin mit eindeutig weiblichen Geschlechtsorganen geboren worden und als Mädchen aufgewachsen, und ich laufe jetzt, mit Anfang 40, immer noch als Frau durch die Welt und kann irgendwie damit leben.
Ich bin bisher ganz gut damit klargekommen, mich in Menschen des anderen Geschlechts zu verlieben (auch wenn das ein Thema für einen eigenen Post wäre) und konnte deshalb meine Beziehungen relativ sorglos in der Öffentlichkeit anbahnen und ausleben.
Ich bin in einer Zeit, einem Land, einer Kultur und einer Bildungsschicht aufgewachsen, wo ich rechtlich und offiziell die gleichen Möglichkeiten hatte und habe wie männliche Altersgenossen, obwohl(sic!) ich weiblich sozialisiert bin.
Das alles ist ein unglaubliches Glück und Privileg, und ich kann und will hier gar nicht anfangen von Menschen, die es auf jeder dieser Achsen unverdienterweise unendlich viel schwerer haben.

Ich hab als Frau natürlich auch klassische Diskriminierungserfahrungen gemacht. Ich habe z.B. (zum Glück nur) kleinere sexuelle Übergriffe erlebt, ich werde regelmäßig nicht ernstgenommen und mich schützen wollende Menschen haben oft versucht, mir Orte und Verhaltensweisen zu verbieten, weil sie sehr riskant für mich seien (und das defintiv statistisch auch sind).
Aber darum geht es mir hier gar nicht:
Ich habe, seit ich klein bin, diesen Genderwahn nicht verstanden und mich mit soviel Schwachsinn auseinandersetzen müssen, der nichts mit mir zu tun hat und mich nicht betrifft. Insofern versteh ich Leute, die die aktuelle Diskussion nervt, hervorragend.
Ich nehm das halt nur andersrum wahr.

Ich bin irgendwie so ein Mensch. Mit irgendwelchen Begabungen, Schwächen und Vorlieben. Der versucht, seinen Alltag zu bewältigen.
Außerdem habe ich weibliche Geschlechtsorgane.
Und ich kann zwischen diesen Tatsachen wirklich nur sehr selten einen Zusammenhang feststellen. (Wenn, dann geht es dabei meistens um lästige Probleme mit Monatsblutungen, manchmal auch um Sex, aber eigentlich nie um Dinge, die jemanden außer mir und meinen Liebsten betreffen.)

Irritierenderweise ist die Form meiner Geschlechtsorgane aber für die Gesellschaft anscheinend sehr wichtig.
Sie leitet daraus insbesondere eine umfassende Vorstellung von mir als Person ab, die manchmal zutrifft und oft auch nicht, und die mich schon als Kind oft verblüfft zurückgelassen hat.

Ich habe meine Stärken und Interessen klar im Bereich Naturwissenschaft und Technik.
Ich habe als Teenager sehr gerne schnulzige Liebesromane gelesen.
Ich war in meinen Beziehungen bisher meistens die weniger anhängliche, Sex gegenüber aufgeschlossenere, und zB. in der Wohnung unordentlichere Person.
Ich trage gerne Röcke, häkele und stricke gerne und weine schnell.
Ich habe ein Handwerk gelernt und ein Mathe- und Informatikstudium abgeschlossen.
Das Handwerk ist mit Papier und hübschen bunten Sachen, nicht mit Schraubenschlüsseln..
Ich habe ziemlich genau die durchschnittliche Körpergröße eine deutschen Mannes und bin ein bisschen schwerer, und war, v.a. als ich jünger war, körperlich eher stärker als die meisten meiner männlichen Partner.
Ich kann schlecht einparken.

Das ist alles relativ uninteressant und trifft jeweils auf viele Leute zu, aber seltsamerweise sind das alles Eigenschaften, die regelmäßig in irgendein Verhältnis zu der Form meiner Geschlechtsorgane gesetzt und damit bestätigend oder verwundert kommentiert werden.
Zum Glück bin ich wie gesagt in der unglaublich privilegierten Position, mich damit vor allem anekdotisch auseinandersetzen zu müssen, und eben mit dem ständigen Bewusstsein, ob das, was ich jetzt gerade mache, besonders weiblich oder unweiblich ist und wie ich mit blöden Sprüchen umgehe, aber ich habe Freiheiten, die historisch und global gesehen nur wenige Frauen haben.
Ich habe einfach nur mehr oder weniger oft gehört, dass ich nicht auf Bäume klettern oder breitbeinig irgendwo sitzen soll; dass Mathe- und Physik-LK für mich besonders schwer sein wird; dass ich meinem Freund keine Rosen hätten schenken sollen, weil das umgekehrt gehört; natürlich, dass ich nicht alleine im Dunkeln nach Hause gehen soll; dass das Mathestudium besonders schwer für mich sein wird; dass ich nicht damit rechnen brauche, dass Sex mir Spaß macht, und froh sein soll, wenn er nicht wehtut; dass mein Mathematikdiplom ein „Hausfrauenstudium“ war; dass wir einen starken Mann brauchen, um diese Kiste in den Keller zu tragen, die ich gestern aus dem Keller hochgetragen habe; dass Geschirrspülen nichts für Jungs ist und deshalb an mir hängenbleibt; dass es klar ist, dass ich als Mädchen jetzt Angst habe; etc etc etc etc etc ad nauseum.

Und ich verstehe tatsächlich nicht, warum ich mich damit auseinandersetzen muss. Seit über 40 Jahren. Täglich.
Ich sehe KEINERLEI Nutzen in einer Unterteilung von Menschen in diese zwei Gruppen. Von der Tatsache, dass es nicht eindeutig zwei Gruppen sind, ganz zu schweigen.
Und sogar von der Tatsache, dass man daraus immer noch in vielen Situationen eine direkte Benachteiligung der weiblich zugeordneten Menschen ableitet, hier mal zu schweigen.

Selbst wenn 99% der Frauen eine Eigenschaft X haben und nur 1% der Männer oder umgekehrt, scheint es mir immer noch sinnvoller, direkt nach der Eigenschaft X zu sortieren.
Im Alltag ist die Form meiner Geschlechtsteile wirklich erstaunlich selten relevant, warum fragt und sortiert man nicht direkt nach dem, worum es grade geht? Körpergröße und -proportionen, Sprachkenntnisse, Kleidungspräferenz, Schwangerwerdenkönnen, technisches Verständnis, Interesse an X, Bedürfnis nach Y?

Ich ergehe mich nicht in der Hoffnung, dass Gender demnächst verschwindet, und selbst wenn, werden bei allen Beteiligten die (normal prägenden wie auch die traumatischen) Folgen der entsprechenden Sozialisation noch für Generationen nicht verschwinden, aber ich würd mir schon wünschen, dass den Versuchen, in dem noch gegebenen System ein bisschen mehr Freiraum für die Realitäten der tatsächlichen Eigenschaften und Bedürfnisse der Einzelnen zu schaffen, wenigstens kein aktiver Widerstand entgegengesetzt wird.

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7 Kommentare zu „Genderwahn

  1. so, jetzt noch mal 1 kommentar. in vielem, was du beschreibst, kann ich mich wiederfinden: teilweise habe ich weibliche eigenschaften, teilweise gar nicht. zum beispiel sind ja meine hobbies kartenspielen, fußball und in kneipen bier trinken, nicht gerade sehr damenhaft, aber dafür weiß ich wirklich gar nichts über technik.
    allerdings hatte ich fast noch nie das gefühl, dass mir irgendjemand wegen meiner weiblichkeit irgendwelche vorschriften machen wollte (vielleicht weil alle angst vor mir haben). im jura business herrscht ja komischerweise ziemliche gleichstellung, ich geh immer überall hin und so, auch nachts im park spazierejn. (habe allerdings abends angst in u-bahnen, aber ich kann ja überall mit dem fahrrad hinfahren).

    was mich viel mehr stört, ist die freiwillige unterwerfung von frauen unter vermeintliche anforderungen, die an sie gestellt werden, also das, was frauen so reden, auch wenn sie es nicht von mir fordern. namentlich sowas wie immer gut aussehen müssen und sowas wie „gesunde ernährung“ (ich glaube ja, eigentlich geht es denen immer darum, dünn sein zu wollen). und vieles mehr. also frauen, die frausein performativ herstellen, geht ja auch nicht anders, nervt aber. weswegen ich die gesellschaft von mennern oft angenehmer finde (nicht weitersagen, mein twitter-ego fordert ja immer die verbrennung von mennern). beispielsweise habe ich immer das gefühl, dass frauen zeigen müssen, dass sie „nett“ sind, immer helfen und zuvorkommen sein zu müssen. das machen die frauen aber nicht, weil sie wirklich nett sind, sondern weil sie meinen „frau“ müsse so sein. ich finde das sehr unangenehm und gekünstelt. dann lieber mit männerkumpels saufen gehn.

    ich bin auch pessimistisch, dass sich das alles schnell ändern wird. im gegenteil, die erosion der bürgerlichen gesellschaft, zunehmende prekarisierung und verunsicherung führt eher dazu, dass in der größer werdenden verunsicherung die sicherheit in der identität durch eine festigkeit in der geschlechtlichen identität hergestellt werden muss. es wird also nicht besser (außer in einer kleinen schicht, die sich da immer weiterentwickelt), sondern eher schlimmer.

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    1. Interessant.

      Meine Erfahrungen waren ja auch eher nicht so, dass sie mich wesentlich eingeschränkt haben – ich sitze immer noch breitbeinig, und ich hab mein Mathediplom gemacht und so, aber gerade im Vergleich zu meinem linken Zuhause, wo man sich sehr viel Mühe gegeben hat, diese Rollen aufzulösen und zu hinterfragen, sind mir in der Mainstreamkultur (von katholische Kleinstadtumgebung über Fernsehwerbung bis Bravo Girl) diese Botschaften ständig aufgefallen und haben mich einerseits „nur“ geärgert, aber mich andererseits schon auch in die Ecke gestellt, dass ich, wenn ich einfach nur „normal ich“ sein wollte, immer im Bewusstsein habe (und erinnert werde, wenn ich es vergesse), dass das jetzt etwas Hervorzuhebendes ist, dass ICH das mache, „als Frau“.

      Das andere, mit der Gesellschaft von Frauen und Männern hab ich auch lange so gehalten, aus einer ähnlichen Haltung heraus. Mag ich aber inzwischen nicht mehr.
      Erstens nervt mich in Männerrunden, auch linken, leider, der fehlende aktive Feminismus inzwischen MASSIV; ich habe mein Studium durch tausend Witze über Schuhekauf und Handtaschen und Einparken mitgelacht, um zu den Jungs dazuzugehören, ich mag nicht mehr, keinen einzigen.
      Und zweitens halte ich es zumindest bei mir inzwischen auch für internalisierte Misogynie, Menschen, die in eine Rolle sozialisiert worden sind, in der sie in jeder Hinsicht, körperlich und durchsetzungstechnisch, möglichst wenig Raum einnehmen sollen, jetzt auch noch dafür zu dissen, dass sie sich davon nur schwer befreien, und wenn, dann oft ein bisschen …verdruckst. Klar ist es cooler, mit den Leuten rumzuhängen, denen immer schon Raum zum Coolersein gelassen wurde.
      (Finde allerdings auch: in der Gesellschaft von Frauen, auch tollen, starken, die sehr sehr häufige Fixierung darauf, Nahrung in irgendeiner Form zu policen, triggernd und schwer erträglich, da muss ich manchmal fliehen.)

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  2. ja, also internalisierte misogynie hab ich sehr viel. das lebe ich angenehmerweise (für die umwelt) hauptsächlich durch selbsthass aus. über frauenfeindliche witze kann ich durchaus immer noch lachen, fürchte (wenn sie gut sind, kenne allerdings einen sehr guten einparkwitz, der männerfeindlich ist, aber auch bodyshaming). ich glaube auch, dass wir „frauen“ dinge viel übler nehmen als „männern“, weil wir eben unterschiedliche erwartungen an die haben. sich der gesellschaft von frauen zu entziehen, zb weil sie „nahrungspolicing“ betreiben (du erfindest gute termini), oder auch sehr oft und viel bodyshaming (wenn „schlanke“ frauen rumjammern, sie müssten abnehmen und sowas) und ich weiß nicht noch was, dann ist das halt auch vermeidungsverhalten.

    ich muss dir aber wirklich sagen, dass ich keine frauen kenne, die die oben genannten verhaltensweisen nicht an den tag legen. naja, ich verbringe sehr viel zeit mit mir alleine.

    ja, dieser punkt, wenn ich dich richtig verstehe, dass du dir immer bewusst bist, mit deiner haltung die ausnahme zu sein: bei mir war das lange nicht so, da ich ja in so einem linken paralleluniversum aufgewachsen bin (was in echt natürlich auch super rassistisch und sexistisch war, aber besser versteckt), kam erst später. aber jetzt ist es immer so. ich sage quasi nie was ich denke (ja, wer mich mehr aus dem internet kennt, würde das nicht meinen). immer übersetzen, abwägen, was kann ich sinnvollerweise sagen, was besser nicht. an-strengend.

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      1. den mit „warum können frauen nicht einparken?“ antwort „weil sie immer gesagt kriegen, dass das [mit der hand spanne anzeigen, die 8cm beträgt] 30 cm sind

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  3. Ah ja nee auch gut! 😀
    Ich meinte den hier, ähnliches Prinzip:

    Nee, also mich nerven inzwischen eigentlich alle Sachen, die irgendwelche Genderklischees voraussetzen, sogar, wenn sie sich zur Abwechslung über Männer lustig machen. Weil mein (völlig hoffnungsloses) Bedürfnis, dass dieser Quatsch einfach keine Rolle mehr spielt, irgendwie in den letzten Jahren ins Unermessliche gewachsen ist.

    Vielleicht find ich es sogar mühsamer im Moment, weil ich zum ersten Mal einen männlichen Partner habe, der tatsächlich körperlich stärker ist als ich, und rationaler und sachlicher, und weniger über Gefühle redet als ich, der, weil er viel mehr Geld hat, mich meistens einlädt, der sich weniger für einen hübschen Haushalt interessiert und bei dem ich ein bisschen anhänglicher bin als umgekehrt, sodass ich manchmal Angst habe, jemand könnte uns sehen und denken, das alles stimmt – OBWOHL es bisher in allen meinen Beziehungen umgekehrt war, und OBWOHL die konventionell weiblich wirkenden, unsicher-wabbeligen Eigenschaften, die ich im Moment manchmal zeige, meiner Wahrnehmung nach vor allem daran liegen, dass ich im Alter meinem Vater immer ähnlicher werde, von dem ich sie hab.
    Trotzdem. Mach es weg. Ihhh.

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